David Bebnowski: Editorial zum Schwerpunkt Arbeit und Literatur (II/2020)

Literatur und Geschichte erzählen. Ihr Medium ist die Sprache. Sie schreiben Geschichten, verknüpfen, komponieren, ordnen, verbinden Zusammenhänge und trennen Unterschiedliches. Das geschriebene Wort wird durchs Lesen zum Gedanken und lassen Bilder im Kopf entstehen, die sich zu einem Narrativ verknüpfen. All dies geschieht unter ganz eigentümlichen Produktionsbedingungen: Denn Schriftsteller_innen und Historiker_innen gehen einer einsamen Arbeit nach, die sich doch stets an das Kollektiv der Leser_innen, an das Publikum, richtet. Was Autor_innen niederschreiben soll einen Eindruck hinterlassen, mitunter auch Druck erzeugen. Narrative beziehen nicht nur die Figuren in Romanen, Poesie oder historischen Abhandlungen aufeinander, sondern setzen die Leser_innen in Beziehung mit den Erzählungen. Das Lesen kann damit in einem sehr direkten Sinne als Bildung verstanden werden, indem es Motive aus dem Inneren der Lektüren im Außen, dem Leben der Leser_innen, bildet, Vorstellungen entstehen lässt.

Damit sind Geschichte und Literatur als Wissenschaft und Kunst untrennbar mit der Gesellschaft und deren kollektiven Vorstellungen, dem sozialen Imaginären, verbunden.1 Diese kollektiven sozialen Vorstellungen ordnen die Gesellschaft, lassen gleichzeitig aber auch die Möglichkeit ihrer Neuordnung aufscheinen. Im Wirkungsfeld des sozialen Imaginären darf sich die Literatur, anders als die der „Vetomacht der Quellen“ unterliegende Geschichtswissenschaft, künstlerischer Freiheit bedienen. Jedoch genau wegen dieser Freiheit, bietet die Literatur einen direkten, mitunter sinnlich erfahrbaren, Zugang zu kollektiven Gedankenwelten.

Diese Gedanken lassen sich auf das Zusammenspiel von Arbeit und Literatur übertragen. Die Arbeit, das (Er-)Leben von Arbeiter_innen, das Schicksal der Klassenzugehörigkeit, die Möglichkeiten und Versuche all dies zu verstehen und alledem zu entgehen, sind dauerhafte Triebfedern literarischer Werke. Allerdings unterliegt auch die Literatur den historischen Veränderungen der Gesellschaften, in denen sie entsteht. Insofern lässt sich fragen, welche Vorstellungen Literatur in Zeiten transportiert, in denen die Arbeit ihren Charakter und Inhalt verändert, in denen es nicht mehr selbstverständlich ist, überhaupt von Klassen zu sprechen. Welche Perspektiven auf Arbeit und Literatur lassen sich aus einer langfristigen historischen Sicht einnehmen? Welche Vorstellungen von Arbeit und Klasse werden in der Literatur verhandelt? Inwiefern kann die Literatur dabei helfen, Vorstellungen von und Haltungen gegenüber der Arbeit zu entwickeln?

Auch wenn diese Fragen in einem Schwerpunktheft zu Arbeit und Literatur niemals erschöpfend beantwortet werden können, haben sie die Konzeption dieses Hefts begleitet und angeleitet. Mit der Überschrift „Arbeit und Literatur“ setzt sich die Autorenschaft in dieser Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte zum Ziel, einen Einblick in die historische Verhandlung von Arbeit in der Literatur zu liefern. Dabei geht es explizit darum, sich der Arbeit und der Arbeiterklasse aus der Perspektive jenseits der organisierten Arbeiterbewegung zu nähern. In den Blick genommen werden in dieser Ausgabe deshalb Ansätze, die Arbeit und Literatur im 19. Jahrhundert und der Zeit der Deindustrialisierung beleuchten oder auf das häufig unbeachtete Schicksal von Arbeiterinnen fokussieren.

Dabei orientiert sich die Konzeption dieser Ausgabe an Wegweisern, die der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“2 aufgestellt hat: Der von Prekarität und dauerhafter Unsicherheit geprägte Arbeitsalltag im 21. Jahrhundert erinnert an die Zeit vor dem Entstehen der historischen Arbeiterbewegung. Eine Suche an den Rändern dieser Zeit soll frische Gedanken provozieren und Raum für neue Vorstellungswelten schaffen.

Die Schwerpunkte liegen auf Übersetzungen aktueller US-amerikanischer und eines englischen Beitrags zur „Working Class Literature“. Einige der Beiträgerinnen sind in der US-amerikanischen „Working Class Studies Association“ organisiert, die in der Rubrik Geschichtskultur vorgestellt wird. Weitere aktuelle Bestandsaufnahmen werden in Interviews und Diskussionsbeiträgen unternommen. Das Ziel ist es, neue Anknüpfungspunkte für die historische Analyse von Arbeitsbeziehungen zu liefern und ein Verständnis der Arbeit und der Arbeiter_innenklasse in unserer Gegenwart zu entwickeln. Im Sinne der oben angedeuteten Verwandtschaft von Geschichte und Literatur geht es also um die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und eines aufgeklärten Blickes, um Perspektiven, Lebensbedingungen und Herausforderungen der Arbeiterklasse sichtbar zu machen.

Dieses Sichtbarmachen erfolgt rückwärts durch die Geschichte. Der Beginn liegt in Darstellungen zeitgenössischer Literatur und endet in Romanen und Lektüren US-amerikanischer und britischer Werktätiger des 19. Jahrhunderts. Einen Anfang und Orientierungspunkt liefert Sherry Lee Linkons Aufsatz zur „Deindustrialisierungsliteratur“, einer postindustriellen Arbeiter_innenliteratur, die seit den 1970er Jahren entstanden ist. Indem die Romane und Gedichte der „Deindustrialisierungsliteratur“ ganz verschiedene Perspektiven aus der Arbeiter_innenklasse versammeln, lässt Linkons Essay die Vielgestaltigkeit der Arbeiterklasse im postindustriellen Zeitalter erkennen. So steht das Erleben des Strukturwandels aus der Perspektive von Industriearbeiter_innen bewusst in Verbindung mit dem Erleben von Krankenpfleger_innen, aber auch dem großen Heer von Arbeiter_innen im gegenwärtigen Dienstleistungsprekariat, die als Verkäufer_innen in Shopping Malls arbeiten oder ihr Einkommen als Franchisenehmer in Fast-Food-Restaurants beziehen.

Verbunden mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel ist die Diagnose der Prekarität. Zugespitzt ausgedrückt, erhält auch in den Gesellschaften des globalen Nordens Karl Marx‘ Figur des Arbeiters als virtueller Pauper eine Renaissance.3 Anke Stelling, eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart, beleuchtete in ihrem 2019 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman „Schäfchen im Trockenen“ die Brüche innerhalb des aufgeklärten linksbürgerlichen Großstadtmilieus aus der Perspektive einer Schriftstellerin. Nach dem Verlust ihrer Wohnung ist sie mit den ungeschriebenen Gesetzen einer Gesellschaft konfrontiert, in der Klassengegensätze geleugnet werden. Im Interview mit Anke Stelling haben wir uns über den aufklärerischen und bewusstseinsbildenden Wert der Literatur ausgetauscht.

Inmitten der beginnenden Umbrüche in der Arbeitswelt der 1970er und 1980er Jahre schrieb der Schriftsteller Ronald M. Schernikau zwischen Ost- und Westdeutschland und der Relaisstation West-Berlin. In seinen eigenen Worten beschrieb er sich, als „ein ddrbürger der einen westberliner spielt der einen ddrbürger spielt“4. Schernikau, der West-Berlin zugunsten der DDR verließ und dort über das Kulturförderungsprogramm des „Bitterfelder Wegs“ in direkten Kontakt mit Arbeiter_innen geriet, reflektierte diese Erfahrungen in seinen Schriften. Helen Thein, die die Neuauflage von Schernikaus Hauptwerk „Legende“5 2019 mitherausgegeben hat, zeigt, auf welche Weise Schernikau das Leben der Arbeiter zwischen dem Dreck des Tagebaus und der Aussicht auf Schokoladenfabriken entwarf.

Die Literatur ist nicht die einzige Kunstform, die sich „lesen“ lässt. Auch Filme gehorchen einer eigenen Grammatik und weisen Strukturprinzipien auf, die wie Lektüren analysiert werden können. Genau dies zeigt Kathy Newman in ihrem Aufsatz, der Arbeiterfilme über die Dauer von fast hundert Jahren analysiert. Newman versammelt dabei so unterschiedliche Filme wie die des marxistischen britischen Regisseurs Ken Loach und Kassenschlager wie Ocean’s Eleven. In diesem breiten künstlerischen Spektrum wird nicht nur die Hollywood-Left erkennbar, sondern auch, dass die Arbeiter_innenklasse immer ein Bezugspunkt für die Filmschaffenden war und immer noch ist.

Die Literaturwissenschaftlerin Jan Goggans ermöglicht uns, die Lesegewohnheiten der US-amerikanischen Arbeiter_innenklasse des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Goggans untersucht aus einer materialistischen Perspektive, was Arbeiter lasen. Neben einem Überblick über den Wandel der technischen Produktionsbedingungen der Literatur, stehen dabei die Verfügbarkeit und Gebrauchsweisen der Lektüren für die Arbeiter_innen im Mittelpunkt.

Arbeiterinnen besaßen in der Literatur zum 19. Jahrhundert allenfalls einen Platz in den Marginalien am Seitenrand, wie Florence S. Boos in ihrem Artikel über Arbeiterinnen im viktorianischen England zeigt. Am Beispiel von Autobiographien dreier Schriftstellerinnen wird deutlich, vor welchen zusätzlichen Herausforderungen Frauen aus der Arbeiterklasse infolge der geschlechtlichen Arbeitsteilung standen.

Welche Rolle Literatur und Poesie ganz grundsätzlich bei der Konstitution einer Klasse und der Ausbildung eines Klassenbewusstseins spielen können, ist das Thema des Interviews mit Patrick Eiden-Offe. Wie und auf welche Weise trugen verschiedene Lektüren und Literaturtypen dazu bei, dass das noch nicht in einer organisierten Arbeiterbewegung verbundene Proletariat zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Bewusstsein über seine Lage entwickelte? Eine Frage ist dabei, ob die damaligen Erfahrungen auch Orientierung für die Gegenwart bieten können.

Aktuell ist diese Frage auch mit Blick auf jüngste Veröffentlichungen, die das Schicksal einer Sozialisation in der Arbeiterklasse im 20. und 21. Jahrhundert porträtieren. In Deutschland haben die Publikationen der französischen Autoren Didier Eribon, Edouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie diese Fragen in die öffentliche Debatte zurückgeholt. Trotz dieses Verdienstes konstatiert Pierre-Héli Monot in seinem Diskussionsbeitrag kritisch, dass die Arbeiterklasse dabei als ein Zerrbild ihrer selbst dargestellt werde. Aus dieser Perspektive enthüllen sich ungeschriebene Regeln eines Diskurses, in dem die Arbeiterklasse als exotisches Faszinosum weiterhin bestenfalls geduldet wird.

Der Schwerpunkt zu Arbeit und Literatur schließt mit einem Tagungsbericht zum Thema „Klasse im 21. Jahrhundert“. Die seit einigen Jahren zu beobachtende Rückkehr der Klassenfrage verweist auf die Relevanz der literarischen und historischen Verhandlung von Klassen. Die Darstellungen in diesem Heft liefern jenseits der organisierten Arbeiterbewegung im Zeitalter des Fordismus, begonnene Suche, liefern naturgemäß nur einen begrenzten Einblick in die historischen Beziehungen von Arbeit und Literatur. Vieles bleibt über kulturpolitische Initiativen zu sagen, die aus der Arbeiterbewegung und in staatssozialistischen Systemen entstanden. Beispiele hierfür sind der „Bitterfelder Weg“ in der DDR, aber auch der im Westdeutschland der 1970er Jahre entstandene „Werkkreis. Literatur der Arbeitswelt“. Beide Zusammenschlüsse werden in der Vorstellung des „Archivs Schreibender ArbeiterInnen“ und dem „Fritz-Hüser-Institut“ gestreift. Auch diese Beispiele verweisen auf die Möglichkeit weiterer Darstellungen zur Geschichte von Arbeit und Literatur. Insofern darf dieses Heft nicht als letztgültige Antwort auf das Verhältnis von Arbeit und Literatur missverstanden werden, sondern spricht explizit eine Einladung für weitere Beiträge zum Thema aus.

1 Zum sozialen Imaginären vor allem: Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a.M. 1984; Warren Breckman: Adventures of the Symbolic. Post-Marxism and Radical Democracy, New York 2013, S. 96–138.

2 Vgl.: Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin 2017.

3 Vgl.: Karl Marx: Grundrisse, in: MEW 5, S. 15-770, hier: S. 505; hierzu auch: Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 37.

4 Siehe den Beitrag von Helen Thein in dieser Ausgabe.

5 Ronald M. Schernikau: Legende (hg. von Lucas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck), Berlin 2019 [zuerst 1999].